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Rhythmische Darstellungen
...Alois Riegel rehabilitiert in seiner „Spätrömischen Kunstindustrie“
von 1901 eine kunsthistorische Periode, die bis dahin als dekadent
und nicht beachtungswürdig galt: die der frühchristlichen Kunst.
Der Vertreter der Wiener Schule wollte aufzeigen, wie das, was
grobschlächtig, unharmonisch und antiklassisch aussah, in
Wirklichkeit einer künstlerischen Darstellungsform mit besonderen
expressiven und kommunikativen Bedürfnissen entsprach.
In der Kunst unserer heutigen Zeit, wie zu allen Zeiten der Geschichte
vor uns, fühlen wir bisweilen ein gewisses Unbehagen, wenn wir im
Vergleich zu der von den meisten Künstlern verwendeten Sprache
etwas Atypisches vor uns haben. Das Andersartige, Unkonventionelle
erschreckt und verängstigt, weil es dazu zwingt, alles aus neuen
Blickwinkeln zu überdenken. Aber wie können wir entscheiden,
wer den richtigen Stil verwendet, um als Künstler des dritten
Jahrtausends zu gelten?
Bruno Raetsch stellt sich solche Fragen sicherlich nicht: als Zeuge
der eigenen Zeit hat er ein Ausdrucksmittel gewählt, das ihm erlaubt
kämpferisch zu sein, mit der Kunst den eigenen historisch-
existentiellen Moment zu leben. Daraus entspringt ein
Kommunikationsmittel, das, befreit von jedem Hedonismus und jeder
möglichen Form der rhetorischen Monumentalität, im Ausdrucksdrang
eines Augenblicks ihren Ausgangspunkt sucht.
Raetsch stellt sich der Materie gleichsam wie eine Art Höhlenforscher einem artesischen Brunnen:
die Erregung lässt ihn erahnen, was die Augen noch nicht sehen können, aber der Respekt vor der
Natur und der Vergangenheit führt ihn zu jener bewussten Bescheidenheit dessen, der weiß,
dass er ein verletzbares Instrument ist. Der Ansatz ist immer etwas schmerzhaft und oft aggressiv:
Bruno erobert die Materie, ohne ihr notwendigerweise ihre charakteristischen Eigenheiten zu nehmen.
Die Unmittelbarkeit der Geste, die Härte gewisser Einschnitte, die Ecken und Kanten eines Teiles der
Skulptur führen uns wieder zurück zum ursprünglichen Anspruch auf Kompaktheit des gewaltsam verformten Holzblockes,
ohne bis zu den Wurzeln der Form eindringen zu müssen: Die Empfindungen der primitiven Kunst sind beschränkter und roher -
schreibt Ernst Grosse 1894 in seinem Werk "Die Anfänge der Kunst" - ihre Materialien ärmlicher,
ihre Formen schlichter und schwerer, aber in ihren Motiven, ihren Mitteln und in ihren wesentlichen Zielsetzungen
bildet die primitive Kunst ein Ganzes mit der Kunst aus jeder Zeit."
1904 entdeckt Ernst Ludwig Kirchner im Anthropologischen Museum von Dresden die expressive Kraft der
afrikanischen und ozeanischen Skulpturen. Kurz darauf gründet er zusammen mit anderen bedeutenden Künstlern "Die Brücke",
die zur Stammzelle des deutschen Expressionismus werden sollte.
Bruno Raetsch bleibt nicht unberührt von der inneren und expressiven Freiheit von Völkern,
die es nicht notwendig hatten, etwas Originelles zu erfinden, um modern zu sein: in ihm ist der expressionistische Versuch,
sich von der Schwere des Holzes zu befreien, und zwar durch immer rauere Oberflächen, Schnitte, Löcher, Einkerbungen,
Kratzer und manchmal einen pechschwarzen Strich, der Physiognomien hervortreten lässt, entschlossen und provisorisch zugleich,
die seinen Gestalten in eine mystische Innerlichkeit verleihen.
Einige seiner Arbeiten sind durch ein harmonisches Gleichgewicht der Teile gekennzeichnet,
das an den mythischen Ursprung der Welterschaffung, verbunden mit einigen orientalischen Philosophien, erinnert;
in anderen überwiegt eine schmerzvolle Gebärde, wo die unruhige, bewegte Modellierung der Oberfläche den Eindruck erweckt,
der Mann sei seiner Haut entblößt worden und sein Fleisch läge offen: eine rohe und glühende Masse.
In diesen Skulpturen wird der menschliche Körper aus seiner natürlichen und erwarteten anatomischen Konsistenz genommen:
der dichte Rhythmus behält gegenüber der ästhetischen Analyse die Oberhand, der Mitteilungsdrang herrscht vor über den Gedanken,
der Eros setzt sich gegen den Logos durch. Der deutsche Bildhauer lässt die Schlagkraft der Massen -
oder der einzelnen Teile des Werkes - wirksam werden, indem er seine menschlichen Körper in rhythmische Darstellungen verwandelt.
Raetsch verzichtet auf den gezierten Strich zu Gunsten einer gröberen Art, die es ihm ermöglicht,
auch durch anatomische Missverhältnisse die körperliche Form hervorzuheben.
Statische, aber nie in Pose gestellte Figuren, spöttische Büsten, die aber von den existentiellen Karikaturen der
"Neuen Objektivität" weit entfernt sind: Raetsch verweigert die direkte Gegenüberstellung mit der Illusion des Wahren,
indem er auto-referentielle Formen wieder zu beleben versucht, außerhalb des Raumes, aber innerhalb der Zeit
(mehr existentiell als chronologisch gesehen), die auf die Rohheit, die brutale Eindeutigkeit und die Unmittelbarkeit
der knallharten Aktualität der Dinge verweist. Es entstehen daraus eine Art Totems, in denen das Licht vibriert und mit den
Formen interagiert, indem es die Materie verherrlicht und gleichzeitig ihre doch vorherrschende Präsenz im Raum mildert.
Bruno Raetschs Werke sind kraftvoll und dicht, gewaltig und auf aggressive Weise sanft, intelligent,
spontan und überraschend ob ihrer Energie und ihrer einzigartigen intellektuellen Projektion,
die durch die ewigen Rhythmen von Leben und Tod genährt wird...
Dr. Maurizio Vanni
Museumswissenschaftler, Kunstkritiker und Kunsthistoriker
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